Kurt Otto Wilhelm LUBS

Kurt Otto Wilhelm LUBS

Eigenschaften

Art Wert Datum Ort Quellenangaben
Name Kurt Otto Wilhelm LUBS
Beruf Kunst- und Bauschlosser 1941 Demmin, LK Demmin, RBez. Stettin, Prov. Pommern, Preußen, Deutsches Reich nach diesem Ort suchen
Beruf Schlosser in der Maschinen-Ausleih-Station (MAS) Mai 1953 Sarow, Krs. Demmin, Bez. Neubrandenburg, DDR nach diesem Ort suchen
Beruf Fernstudent an der Fachschule Wartenberg bei Kalbe (Milde) 1. September 1957 Kalbe (Milde) OT Wartenberg, Krs. Kalbe (Milde), Bez. Magdeburg, DDR nach diesem Ort suchen
Beruf Landmaschineningenieur 31. Juli 1960 Kalbe (Milde) OT Wartenberg, Krs. Kalbe (Milde), Bez. Magdeburg, DDR nach diesem Ort suchen
Beruf Betriebsstellenleiter MAS-Leitbetrieb Neustrelitz-Tannenhof 1. September 1960 Neustrelitz, Krs. Neustrelitz, Bez. Neubrandenburg, DDR nach diesem Ort suchen
Beruf Betriebsstellenleiter Kreisbetrieb für Landtechnik (KfL) Templin 1. September 1968 Templin, Krs. Templin, Bez. Neubrandenburg, DDR nach diesem Ort suchen
Beruf Direktor Kraftfahrzeug Instandsetzungsbetrieb (KIB) Templin 1978 Templin, Krs. Templin, Bez. Neubrandenburg, DDR nach diesem Ort suchen

Ereignisse

Art Datum Ort Quellenangaben
Geburt 4. Juni 1923 Beggerow, LK Demmin, RBez. Stettin, Prov. Pommern, Preußen, Deutsches Reich nach diesem Ort suchen
Bestattung 24. Februar 2001 Templin, LK Uckermark, Brandenburg, Bundesrepublik Deutschland nach diesem Ort suchen
Tod 16. Februar 2001 Prenzlau, LK Uckermark, Brandenburg, Bundesrepublik Deutschland nach diesem Ort suchen
Wohnen August 1960 Neustrelitz, Krs. Neustrelitz, Bez. Neubrandenburg, DDR nach diesem Ort suchen
Wohnen August 1968 Templin, Krs. Templin, Bez. Neubrandenburg, DDR nach diesem Ort suchen
Wohnen 16. Februar 2001 Templin, LK Uckermark, Brandenburg, Bundesrepublik Deutschland nach diesem Ort suchen
Umzug 1. April 1938 Demmin, LK Demmin, RBez. Stettin, Prov. Pommern, Preußen, Deutsches Reich nach diesem Ort suchen
Militärdienst 1941 Libau-Kurland (Liepāja), Lettische SSR, Sowjetunion nach diesem Ort suchen
Militärdienst September 1943 Windau im Kurland (Ventspils), Lettische SSR, Sowjetunion nach diesem Ort suchen
Militärdienst 20. Oktober 1943 Polen nach diesem Ort suchen
Militärdienst Oktober 1945 Sochumi, Abchasische Autonome SSR, Sowjetunion nach diesem Ort suchen
Militärdienst Oktober 1949 Sibirien, Sowjetunion nach diesem Ort suchen
Militärdienst April 1953 Gronenfelde, Krs. Frankfurt (Oder), RBez. Frankfurt (Oder), Brandenburg, DDR nach diesem Ort suchen

Ehepartner und Kinder

Heirat Ehepartner Kinder

Notizen zu dieser Person

TOD:
Verstorben im Krankenhaus Prenzlau um 6:20 Uhr
Traueranzeige im Nordkurier (Templiner Zeitung) vom Februar 2001:
Das einzig Wichtige im Leben
sind die Spuren von Liebe,
die wir hinterlassen,
wenn wir ungefragt weggehen
und Abschied nehmen müssen.
(Albert Schweizer)
Nach langer, mit Geduld ertragener Krankheit
verstarb am 16. Februar 2001 mein lieber Mann,
unser lieber Vater, Schwiegervater, Opa,
Schwager und Onkel
Kurt Lubs
im Alter von 77 Jahren.
In Liebe und Dankbarkeit
nehmen Abschied
Hildegard Lubs als Ehefrau
Petra Hohensee als Tochter
und Ehemann Burkhard
Luise Barth als Tochter
und Ehemann Gerald
Andrea, Mario, Stefanie, Sebastian
und Benjamin als Enkel
und alle, die ihn kannten und schätzten
Templin, im Februar 2001
Die Trauerfeier mit anschließender Urnenbeisetzung
findet am Sonnabend, dem 24. Februar 2001, um
13.00 Uhr auf dem Waldfriedhof in Templin statt.

BESTATTUNG: Bestattet auf dem Waldfriedhof der Stadt Templin, Röddeliner Straße, Templin, Landkreis Uckermark, Deutschland

BIOGRAPHIE:
Militärdienst: Heeresgruppe Nord, 18. Armee, XXVI. Armeekorps, 291. Infrantrie-Division,Feldersatz-Bataillon 29, Kraftfahrzeugersatzabteilung Nord
Quelle zum gesamten Militärdienst: Kurt Lubs

BIOGRAPHIE: Militärdienst: Sochumi ist die Hauptstadt Abchasiens.
Am 4. März 1921 wurde Sochomi von der 9. Armee der Roten Arbeiter- und Bauernarmee unter dem Kommando von W. Ch. Ter erobert. Kurz darauf wurde sie Hauptstadt der neugegründeten Abchasischen Sozialistischen Sowjetrepublik, einer eigenständigen sowjetischen Teilrepublik.
In Sochomie befand sich ab Juli 1945 das vom NKWD gegründete Physikalisch-Mathematische Institut, an dem Manfred von Ardenne bis 1954 an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe forschte. In Sochumi bestand zeitweise auch das Kriegsgefangenenlager 461 für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Sochumi

BIOGRAPHIE: Hinweis: Das Kriegsgefangenenlager 461 hieß Suchumi (auf deutsch). Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_sowjetischer_Kriegsgefangenenlager_des_Zweiten_Weltkrieg

BIOGRAPHIE: Das Heimkehrerlager Gronenfelde war nach Ende des Zweiten Weltkrieges das zentrale Heimkehrerlager für deutsche Kriegsgefangene im Osten. Das Lager befand sich bei Frankfurt (Oder) südlich von Booßen an der Gabelung der Eisenbahnstrecken von Frankfurt nach Seelow und Rosengarten/Berlin. Heute befindet sich die Deponie Seefichten an gleicher Stelle. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Heimkehrerlager_Gronenfelde

BIOGRAPHIE: "Urlaub am Labus oder die Wege des Kurt Lubs"
Erzählung von Karl Reddmann
Demmin im April 2005
Wir waren am Morgen beizeiten aufgebrochen. Jetzt, halber Vormittag, quälte sich unser bis unter das Dach vollgeladener alter Trabi den Weg am Kanal zwischen Useriner und Labussee entlang. Hier irgendwo an der stillgelegten Schleuse sollten wir den Wohnwagen unserer Schwagersleute finden, mit denen wir zwei Wochen gemeinsam Urlaub machen wollten. Da tauchten auch schon, halb verdeckt vom Ufergehölz am Labus, die Umrisse des Wohnwagens auf. Wir waren am Ziel.
Begrüßungszeremonie: „Na habt ihr hergefunden?“ und „Wie war die Fahrt?“ , „Setzt euch erst einmal und trinkt was.“ Ein kühles Glas Bier half die Strapazen der Fahrt zu überwinden. Ein Gefühl der Entspannung überkam uns - Urlaubsgefühl.
Auspacken - vor allem erst einmal den Kübel mit den Tauwürmern ins Kühle bringen, was für eine Katastrophe, wären die verdorben gewesen. Aber sie waren noch frisch. Auch einige mitgeführte Lebensmittel mussten vor dem Verderben in Sicherheit gebracht werden.
„Dat Zelt kannst du hier upbugen.“ Kurt zeigte mir ein schattiges Plätzchen im Ufergebüsch hinter dem Wohnwagen. Für alle war nicht Platz im Wohnwagen, nur unsere Tochter sollte darin übernachten, wir, Trude und ich, wollten in dem geborgten Zelt schlafen. Ich baute das Zelt auf und räumte die Schlafsachen hinein. Die Frauen kümmerten sich um das Mittagessen.
Mahlzeit und Siesta im Schatten. Ein wunderbares Gefühl! Faul im Schatten liegen und den herrlichen Julitag genießen. Um uns die von Vitalität strotzende Natur und über uns der blaue Sommerhimmel, über den schneeweiße Schönwetterwolken zogen. Im Halbschlummer drangen die spärlichen Geräusche des Sommermittags an mein Ohr: das Gewisper des immer geschäftigen Meisenvolkes, Summen irgendwelcher Insekten und gedämpfte Stimmen von auch in der Mittagsstunde Badenden am Zwenzower Ufer.
Am Nachmittag lockte das Wetter zu einer Badetour rüber nach Zwenzow. Natürlich hatten die Kinder den größten Spaß daran, sie wetteiferten in ihren Schwimmkünsten, Luise, Lubsens Jüngste, hatte noch Schwierigkeiten, sie war einfach noch nicht so weit.
In den Abendstunden wurde alles für den Angelausflug am nächsten Morgen vorbereitet, das Angelgeschirr gerichtet. Auch wenn wir im Morgengrauen aufbrechen wollten, blieben wir bis zur Dämmerung bei einer Flasche Wein vor dem Wohnwagen sitzen, während die Kinder schon schlafen sollten, was ihnen wegen des Ungewohnten nicht gelingen wollte und deshalb Ärger einbrachte.
Schließlich krochen wir ins Zelt, aber das Schlafen wollte zuerst nicht gelingen, zu ungewohnt. Am Ende bin ich doch eingeschlafen, tief und fest.
Zunächst konnte ich gar nicht reagieren. „Schwoager hürst du nich, de Oal röpt uns, wie sölen em ruthoalen!“ „Gaut, ik koam.“ Schwager Kurt war’s zufrieden und ging wieder. Ich rieb den Schlaf aus den Augen und stieg in das bereit gelegte Angelzeug. Trude war natürlich wach geworden, sie drehte sich um und versuchte weiter zu schlafen. Mich fröstelte, unausgeschlafen, wie ich war, in der Kühle der Morgendämmerung. Schnell ein bisschen Katzenwäsche, ein Schluck Kaffee aus der Thermosflasche und ein am Abend vorbereitete Stulle aus der Brotdose und dann los.
Willig sprang der Wartburgmotor an, und wir fuhren der gerade aufgehenden Sonne entgegen auf den See hinaus. Kurt hatte die Koordinaten einer guten Aalstelle von einem Einheimischen erfahren. Wir konnten im Dunst des erwachenden Tages gerade schon die markanten Punkte, einen Überlandmast und einen entfernten Kirchturm, ausmachen und ankerten auf etwa sechs Metern Tiefe. Angeln ausloten, beködern, einwerfen, und dann warten auf das, was da kommen sollte. Ich lehnte mich zurück und zündete mir eine Zigarette an. Schwager Kurt holte aus der Backskiste zwei Flaschen tschechisches Bier hervor. Das bekam er regelmäßig über einen russischen Sergeanten aus dem Offizierskasino. Unser heimisches Gebräu war wieder einmal kaum genießbar.
„Jetzt, Schwoager, möten wi ierst eis einen Schluck Bier drinken. Den iersten Schluck kriegt de See, un denn sast du seihn, bitt de Oal ok.“ „Ne, Kurt, ik mag jetzt noch kein Bier an‘n tiedigen Morgen.“. Kurt öffnete seine Flasche, goss einen Schluck davon in den See und sagte dazu: ,, See, wes uns alltied gnädig.“ Und dann nahm er einen herzhaften Zug aus der Flasche. Kaum hatte er die Flasche wieder verschlossen und abgestellt, da hatte er den ersten Biss, und er zog einen guten Aal aus der Tiefe. Als er bald darauf einen zweiten guten Fisch landete, sagte er: „Du sühst, dat dat helpt.“ „Giw mi de Buddel!“ Öffnen, der Schluck für den See und einmal kräftig übergehalten.
Wirklich, es dauerte nicht lange, da zog auch ich einen ordentlichen Aal. Man sollte es nicht für möglich halten. „Jo, Schwoager Korl, dat hebben wi früher bi de Marine -HJ ok so hollen. Jedet Joahr, wenn wie dat ierste Moal noah den Varcher See führt sünd, had uns Kaptein, wie wi tau em seggt hebben, ‘ne Korwbuddel Kurn mit. Dorvon kreg denn de See ierst ümmer einen dächten Schluck un denn wi all noah de Reih. Uns is nie wat passiert up den See.“ „Jo de ollen Tieden. Ik kann mi woll dinken, dat du mi vel von domoals vertellen kannst, un ik bün nieglich naug üm die tautauhüren. Tied hebben wi jetzt ok dortau.“ „Na gaut, denn will ik man vörn anfingen.“
„Als ich 1923 geboren wurde, hatten meine Eltern in Beggerow eine kleine Landwirtschaft, wohl an die vier oder fünf Hektar Eigenland und zeitweise etwas Pachtland dazu, aber mein Vater, Hermann Lubs, brauchte nicht vor einem Gutsbesitzer zu katzbuckeln, er war sein eigener Herr. Natürlich mussten wir Kinder auch schon beizeiten nach unseren Kräften mithelfen. Ich kann mich erinnern, wie wir in der Julihitze beim Einbringen der Heuernte unter dem Dach der Scheune das Futter festtreten mussten. Dabei kam der Schweiß aus allen Poren, und wir bekamen kaum noch Luft in den stickigen Ecken. Zum Trost hatte Mutter immer einen großen Topf mit kühlem Brunnenwasser, worin etwas Zucker, Essig und Natron gelöst waren, angesetzt, wozu wir Brause sagten. Oder, wenn im Hochsommer auf dem lehmigen Acker nach Glendelin zu fingerdicke Meldestrempel die Kartoffeln oder Futterrüben überwucherten, waren wir, mein älterer Bruder Hermann, Mutter und ich, damit beschäftigt, diese auszureißen, wozu oft nicht die Kräfte ausreichen wollten, aber Mutter hat uns wieder Mut gemacht.
Die Schule in Beggerow bestand wie überall hier in der Gegend aus einem Raum, in dem von der ersten bis zur achten Klasse alle Schüler mehr oder weniger gleichzeitig unterrichtet wurden. An die sechzig Kinder kamen da zusammen. Ich wollte vorankommen und gab mir Mühe. Meist mussten wir in den unteren Klassen nach einer kurzen Einführung Übungen machen, die Schiefertafel voll schreiben. Ich beeilte mich immer, damit ich danach bei dem Unterrichtsgespräch des Lehrers mit der Oberstufe zuhören konnte, das war interessanter. Als ich in der vierten oder fünften Klasse war, bezog mich der Lehrer zuweilen in dieses Gespräch mit ein.
Als Hitler ans Ruder gekommen war, zog nach und nach auch seine Ideologie in unsere Schule ein, Ich erinnere mich noch an die Losungen des Tages. Schüler aus der Oberstufe mussten morgens zur Eröffnung des Unterrichts ein kerniges Hitlerzitat aufsagen. So zum Beispiel: „Die deutsche Jugend muss flink wie ein Windhund sein, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.“ oder ,,Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“ und was dergleichen Sprüche mehr waren. Im Musikunterricht sangen wir statt der anfänglichen Volkslieder immer öfter Soldatenlieder. Manchmal musste ich im Hochsommer, wenn schwüles Wetter war, mit Mutter mittags runter zu den Koppeln, um den Kühen beim Melken die lästigen Insekten zu verjagen, sonst blieben sie nicht stehen und schlugen um sich. Dabei hat mich einmal unsere Ollsch, als sie mit dem Kopf die Plagegeister verjagen wollte, mit dem Horn in der Rippengegend getroffen. Vierzehn Tage lang hatte ich einen Bluterguss und entsprechende Schmerzen. Ein andermal trat sie mir bei solcher Gelegenheit auf den nackten Fuß. Ich musste die halben Ferien hinken, aber die Knochen waren heil geblieben.
Zu unserem Acker gehörte auch ein von einem Quellbach durchströmter Teich. Da er an dem Weg nach Glendelin lag, hatte sich die Bezeichnung „Glendeliner See“ eingebürgert. Vater stellte von Zeit zu Zeit ein paar Reusen darin auf und fing meist eine gute Mahlzeit, meist Schleien, aber auch mal einen Aal oder Hecht. Das war immer eine willkommene Abwechselung zu dem ewigen Eintopf mit Pökelfleisch. Mutter kochte den Fisch immer in weißer Soße mit viel Petersilie und Dill. Für das Angeln hatte ich damals kaum Verständnis. Wer angelte, galt als zu faul zum Arbeiten. Manchmal allerdings habe ich, wenn es sich ergab, unten am Augraben gesessen und dem Spiel der Plötze und Döbel zugeschaut.
Im achten Schuljahr meldeten mich meine Eltern zum Konfirmandenunterricht an, damit ich nächsten Ostern eingesegnet werden konnte. Ein Jahr lang bin ich jede Woche einmal in die Kirche getrabt. Ich lernte beten und Kirchenlieder zu singen, ohne je das Bedürfnis dazu zu verspüren, aber alle gingen hin, es war so üblich, also ging auch ich.
Im April 1938 wurde ich aus der Schule entlassen. Mein älterer Bruder Hermann sollte einmal die Wirtschaft übernehmen. Ich und mein jüngerer Bruder Fritz mussten also etwas anderes werden. Ich hatte mich schon immer für technische Dinge und für Metallbearbei­tung interessiert. Vater besorgte mir eine Lehrstelle bei der Firma Otto Arndt in Demmin, wo ich zum Kunst- und Bauschlosser ausgebildet werden sollte. Das kostete allerdings eine Menge Geld für die Familie, zumal ich auch in Kost und Logie dort sein musste. Ich hatte es aber mit der Lehrstelle gut getroffen. Ich bewohnte mit einem anderen Lehrling ein zwar spartanisch, aber mit dem Nötigsten ausgerüstetes Zimmer unter dem Dach. Mit noch zwei anderen Lehrlingen wurden wir von Frau Meister, wie die übliche Anrede war, verpflegt und bemuttert. Frau Arndt war eine stattliche Frau, die wegen eines Hüft­schadens stets mit einem Handstock ging und der auf Schritt und Tritt ihr Dackel Lumpi folgte. Auch um die Werkstatt kümmerte sie sich und wurde durchaus akzeptiert, da ihr Mann, der Meister, vielfach unterwegs war. Ich erinnere mich daran, dass die Arndts jedes Jahr noch ein Schwein fütterten und schlachteten. Dann gab es immer eine Art Betriebsfest, wo es die frischen Leckereien der Hausschlachtung gab. Ich habe in den drei Jahren viel gelernt.
Während der Lehrzeit wurden wir genötigt, der HJ beizutreten. Ich hatte mich schon immer für Seefahrt interessiert. Ich wollte was erleben und ferne Länder sehen, also ging ich in die Marine- HJ. Natürlich wurden wir auch da geschliffen: marschieren, linksum, rechts um, robben und so weiter. Aber dann waren wir mit dem Kutter unterwegs. Ein bisschen Seemannsromantik kam dabei auf, auch wenn die Riemen kaum mit beiden Händen zu halten waren. Das gab Kraft, zweimal in der Woche abends die schweren Riemen ziehen. Mehrmals im Jahr fuhren wir am Wochenende zum See hoch, fast drei Stunden waren wir meist unterwegs. Die Strapazen waren vergessen, wenn wir auf dem See die Segel setzten und lautlos über die Wellen glitten. Manchmal campierten wir in der Sommersdorfer Bucht unter freiem Himmel. In der Abenddämmerung saßen wir um das Lagerfeuer und kamen uns schon wie Soldaten vor. Was Wunder, die Soldaten- und Seemannslieder kamen von allein auf die Lippen. Einmal hatte unser Ausbilder ein neues Lied mitgebracht. Wir lernten den Text und sangen mit Inbrunst. Er nannte das Lied Landsknechtslied, und es habe der große deutsche Dichter Schiller geschrieben. Der Text ging uns so richtig unter die Haut, das entsprach unseren Sehnsüchten:
„Frisch auf Kameraden aufs Pferd, aufs Pferd: Ins Feld, in die Freiheit gezogen! Im Felde da ist der Mann noch was wert, da wird ihm das Herz noch gewogen. Da tritt kein anderer für ihn ein, auf sich selber so steht er da ganz allein...“ Heldengefühle und eine ungewisse Ahnung, ausgelöst von dem Wort Freiheit, kamen in uns auf. Wenn es doch nur erst so weit wäre!
Der Frankreichfeldzug war wie der Krieg mit Polen in wenigen Wochen über die Runden gegangen, ohne uns. Der deutsche Soldat hatte sich als unbesiegbar gezeigt. Das hatte auch uns das Gefühl der Unbesiegbarkeit gegeben, und die Saat von Hitlers Ideologie, die Deutschen seien als Arier das Herrenvolk und berufen, über die anderen zu herrschen, fiel bei uns auf fruchtbaren Boden und wuchs an.
’41, als ich kaum die Gesellenprüfung mit gutem Erfolg bestanden hatte, kam auch schon die Aufforderung zur Musterung. Natürlich wollte ich zur Marine, aber man stellte eine Farbenblindheit fest, und damit Untauglichkeit für die Laufbahn an Bord. Wegen meines Berufes wurde ich für das Marinekraftfahrersatzkommando gemustert. Als dann im Juni der Krieg im Osten losbrach, ging alles sehr schnell. Ich wurde einberufen, packte den sprichwörtlichen Persilkarton und fuhr in ein Ausbildungslager im Hinterpommerschen.
Damals bei der HJ haben wir schon oft gestöhnt, wenn uns der Ausbilder bei den Übungen gescheucht hat, aber das war die reinste Erholung gewesen im Vergleich mit dem, was jetzt von morgens bis abends auf uns einprasselte. Alles war darauf abgestimmt, in uns das Bewusstsein der Menschenwürde zu vernichten. Ob das beim Häslein- Hüpf war mit vorgehaltenem Karabiner über den Appellplatz oder beim Revierdienst, wenn der U.V.D. die Spinde oft mehrmals ausräumte und die Sachen auf den Boden warf. Mit Vorliebe befahl er häufig Fliegerdeckung, wenn sich unser Zug beim Exerzieren gerade in der Nähe einer größeren Pfütze befand. „Gelobt sei, was hart macht!“ Wo blieb da das Gefühl des Herrenmenschen? Wo war das im Landsknechtslied Versprochene ,,... im Felde da ist der Mann noch was wert...“
Wir fühlten uns wertlos, wie der letzte Dreck, aber wie lautete doch das Hitlerwort: „Wer befehlen will, muss erst gehorchen lernen.“ Ein anderes Wort aus früheren Tagen kam wieder ins Gedächtnis: „Jeder deutsche Soldat trägt den Feldmarschallstab im Tornister.“ Schöner Trost! Wir fühlten uns am Abend, wenn wir völlig erschöpft auf das Lager sanken, unsagbar elend und enttäuscht. Die Fahrausbildung bot eine willkommene Abwechslung, vor allem die technische Seite, da war ich in meinem Element. Auch das Fahren selbst tröstete mich über manches hinweg. Das war schon ein gutes Gefühl, wenn der schwere LKW auf die leisesten Bewegungen meiner Hände oder Füße reagierte. Ein bisschen Bewusstsein des eigenen Wertes kam wieder auf.
Inzwischen war der Krieg bis weit in die Tiefe des russischen Landes eingedrungen. Im Winter ’41 war unsere Grundausbildung abgeschlossen, und ich wurde zur Kraftfahrzeugersatzabteilung Nord abkommandiert.“
Inzwischen war die zehnte Stunde angebrochen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und wurde uns langsam lästig. Der Fisch wollte auch nicht mehr. Zeit, nach Hause zu fahren. Ein schöner Morgen war das gewesen. Wir hatten fünf gute Aale im Bottich, und ich hatte viel über Schwager Kurt erfahren. So habe ich mir immer einen gelungenen Urlaubstag vorgestellt. Die Angeln waren schnell eingepackt, der Anker gezogen, und ab ging es. Schwager Kurt machte, nachdem wir schnell noch eine Tasse Kaffee und eine Schnitte zu uns genommen hatten, die Fische sauber, während ich in den nahen Buchenwald ging und einen Sack voll abgestorbene Rotbuchenzweige holte. Ich musste aufpassen, dass das Holz noch kernig war und nicht schon halb vergangen, dann schmeckte der Fisch brenzlig.
Nach dem Mittagessen drückte das frühe Aufstehen auf die Augenlider, und Siesta war angesagt, wovon die Kinder nichts wissen wollten. Ich kroch ins Zelt, und die Natur verlangte ihr Recht, schnell war ich eingeschlafen. Am Nachmittag wurden die Aale geräuchert. Eine reichliche Stunde vorher waren sie gesalzen worden. Jetzt wurde das überflüssige Salz abgewaschen, sonst konnte es hässliche graue Ablagerungen geben, und die Aale sollten doch lecker braun werden. Zunächst mussten die Fische aufgeräuchert werden. Sie brauchten erst helles Feuer. Dazu holte ich abgestorbenes Gezweig aus den Erlen am Ufer. Das brannte hell ab, so dass die Flammen oben aus dem Ofen herausschlugen und der Ofen zischend heiß wurde. Erst als die Flammen nicht mehr aus dem Ofen loderten, hängten wir die inzwischen aufgezogenen Aale ein und deckten den Ofen oben ab. Jetzt mussten wir aufpassen. Da der Ofen richtig heiß war, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis die Bauchlappen der Aale stramm abstanden. Schnell das angefeuchtete Holz in die Glut, und dann hatten wir etwa eine Stunde Zeit. Wir saßen beide vor dem Ofen, tranken Bier aus der Flasche und passten auf, dass das Feuer nicht aufloderte, der Ofen zu heiß wurde und die Aale platzten, wobei dann der beste Saft in die Glut laufen würde.
Kurt fühlte sich offensichtlich rundum wohl. „So, Schwoager gefüllt mi de Wilt. Dat is ganz wat anners as domoals. Blot ungiern dink di doran taurög. Wat wier dat blot vör eine Tied.“ „Vertell, vertell! Du weitst ik bün ümmer nieglich un kann tauhüren. Af un an ein beten Woader in de Glaut spritzen könen wi ok liekerst.“ „Na gaut.“
„Nun war ich also fertiger Soldat und Kraftfahrer. Unsere Einheit war in Libau in Kurland 1) stationiert. Im ersten Jahr ging das alles recht gut. Ich hatte mit einem Dreitonner Opel alles Mögliche an Nachschub, der in den Hafenstädten per Schiff angekommen war, zu den verschiedensten Truppenteilen zu fahren. Von Konservendosen bis hin zu Munition war alles dabei. So pendelten wir zusammen mit mehreren Fahrzeugen zwischen Memel im Süden und Riga im Osten hin und her. Oft waren wir mehrere Tage unterwegs, schliefen zwischendurch mal eine Stunde auf dem Sitz über, und dann musste es wieder weiter gehen. Im Herbst und Frühjahr fuhren wir uns leicht auf den zum Teil unbefestigten Straßen fest und mussten uns gegenseitig helfen, wieder flott zu werden. Deshalb waren wir meistens mit mehreren Fahrzeugen unterwegs. So war in unserem Bereich alles ruhig. Erst als dann die Front näher rückte, Ende dreiundvierzig und vor allem vierundvierzig wurde es brenzlig. Immer mehr russische Schlachtflugzeuge suchten die Straßen ab, um den Nachschub an die Front zu stören. Sie warfen Bomben und beschossen die Transporte mit ihren Bordkanonen. Immer wieder musste ich raus aus dem Wagen und in der Nähe Deckung nehmen. Es war ein wahres Wunder, dass ich immer wieder mit heiler Haut davon kam. Zweimal bekam mein Fahrzeug einen Volltreffer und war nur noch Schrott.
Wo war da der Glorienschein, der dem Soldatsein angedichtet wurde? ,, .. .im Felde da ist der Mann noch was wert...“ Ich erkannte, wie wertlos ich war, wertlos wie die Würmer unter mir in der Erde, in die ich mich am liebsten verkrochen hätte, um den Tieffliegern zu entgehen.
Als dann im Herbst vierundvierzig die Front immer näher rückte und Libau in der Reichweite der russischen Artillerie lag, wurden wir nach Windau verlegt. Inzwischen war Kurland gänzlich eingekesselt. Der Nachschub lief nur per Schiff. Der Hafen von Libau war immer wieder Ziel russischer Bombardements. Nur kleinere Einheiten kamen noch hin und wieder nach Windau durch, wenn sie nicht unterwegs von den Russen versenkt wurden. Wir waren sozusagen auf verlorenem Posten. Hinzu kam die Angst, in russische Gefangenschaft zu geraten. Was darüber offiziell verbreitet wurde, war nicht gerade verlockend. Aber wie aus dieser Zwickmühle herauskommen?
Ich hatte mich mit Bruno angefreundet. Wir waren viel gemeinsam unterwegs gewesen, hatten uns gegenseitig mit den liegengebliebenen Fahrzeugen aus den verschlammten Straßen geholfen und gemeinsam die Nasen bei den Luftangriffen in den Dreck gedrückt und uns gegenseitig wieder Mut gemacht. Wir waren beide etwa gleichaltrig und hatten beide die Nase voll. Es hatte eine ganze Zeit gedauert, bis wir uns das gegenseitig eingestanden hatten, Vorsicht war geboten, dieser Gedanke konnte tödlich sein. Wenn wir allein waren, sprachen wir vorsichtig darüber. So entstand der kühne Plan, mit einem Boot nach dem schwedischen Gotland 1) überzusetzen. Aber wie war das zu machen. In einer Ruhepause fanden wir in einer verlassenen Bootswerft am Hafen ein Paddelboot. Das musste gehen, aber gut vorbereitet werden. Es gelang uns aus einem Transport einige Konserven und Dauerbrot abzweigen. Bruno war es gelungen, einen Leuchtkompass aufzutreiben. Zwei Kanister mit Trinkwasser und alles, was wir an warmer Kleidung auftreiben konnten brachten wir heimlich in das Boot. Unsere Zeltbahnen wollten wir als Spritzdecken benutzen. Nun musste nur noch das Wetter mitspielen.
Mitte Oktober griffen die Russen wieder verstärkt an. Vor allem vom Süden her, aber auch im Norden in der Nähe von Tukum am Rigaer Meerbusen drang der Kanonendonner zu uns. Es wurde Zeit, wenn unser Plan gelingen sollte. Ein Hochdruckgebiet mit ruhigem Wetter gab den Anschlag. Wir kamen von einem Transport an die Front zurück und waren hundemüde, aber jetzt war die Gelegenheit. Bei Eintritt der Dunkelheit und Fliegeralarm schlichen wir zu dem Werftgelände. Mit Mühe, mehr geschoben und gezogen als getragen, gelang es uns, das Boot zu Wasser zubringen. Das Herz schlug mir bis zum Halse. Gar nicht daran denken, was passierte, wenn man uns dabei erwischte. Aber es gelang uns, leise paddelnd aus dem Hafenbereich zu kommen. Kurs Nordwest und kräftig durchziehen! Keine Müdigkeit aufkommen lassen! Schließlich war das Land hinter uns verschwunden und um uns nichts als Wasser. Nach Stunden des Kampfes gegen Müdigkeit und Erschöpfung waren Motorengeräusche zu hören. Das fehlte noch, jetzt aufgesammelt zu werden. Dann wurde das ferne Gewummer langsam schwächer. Weiter!
Im Morgengrauen, als wir langsam um uns sehen konnten, wurde das Gefühl unendlichen Verlassen seins umso deutlicher. Als dann mit der aufgehenden Sonne auch der Wind stärker‚ die Wellen immer höher wurden, fiel es uns immer schwerer, den Kurs zu halten. Mich befiel Übelkeit. Ich konnte nicht mehr sitzen, alles schmerzte. Kurzum uns war hundeelend zumute. Wir hätten längst etwas essen müssen, unsere Kraftreserven waren am Ende, aber wir beide waren nicht fähig, etwas zu uns zu nehmen. Allein der Gedanke daran verstärkte den Brechreiz. Von Stunde zu Stunde gaben wir uns innerlich immer mehr auf. Nur im Unterbewusstsein, rein mechanisch verhinderten wir mit den Paddeln das Kentern unserer Nussschale. Unser Ziel, die Küste des schwedischen Gotlands zu erreichen, spielte kaum noch eine Rolle in unserem Denken.
Und dann kam die Rettung. Ein Schiff tauchte auf und wurde rasch größer. Offenbar hielt es direkt auf uns zu. Immer, wenn wir auf der Kuppe einer Welle das Schiff deutlich sehen konnten, befiel uns ein Gemisch von Gefühlen: Rettung und Gefahr. War das ein deutsches Schiff, drohte wegen der Desertion die standrechtliche Erschießung, waren es Russen, stand die Gefangenschaft zu erwarten, auch nicht gerade verlockend. Auf das Schiff eines neutralen Landes, etwa Schwedens, war kaum zu hoffen. Das Schiff kam näher. Es war ein Kriegsschiff, wohl eine Art Vorpostenboot. Offensichtlich hatten sie uns entdeckt. Sie legten sich quer in Windrichtung vor uns und winkten uns heran. Im Windschatten des Schiffes gelang es uns, mit letzten Kräften an das Schiff heranzufahren. An der Reling standen mehrere Mann von der Besatzung. Ein Offizier war offensichtlich dabei. Eine Strickleiter wurde herabgelassen, und die Mündungen von Kalaschnikows hielt man uns entgegen. Aufmunternde Rufe in Russisch klangen uns entgegen: ,, Dawei, dawei! Idi zuda!“ Die aufmunternden, nicht unfreundlichen Aufforderungen zu befolgen, war aber nicht so einfach. Die unbequeme starre Haltung in dem Paddelboot und die zusätzlich von Feuchtigkeit und Kälte steif gewordenen Glieder versagten den Dienst.
„Nu Fritz, dawei, dawei!“ kam es wieder von oben. Immer, wenn ich dachte, das Tauende der Strickleiter zu fassen zu kriegen, fielen wir mit unserm Bootchen ins Wellental hinab, und die Strickleiter war unerreichbar über uns. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis wir endlich schlotternd vor Angst und Kälte, mit steifen Gliedern auf der Strickleiter an der Bordwand hingen. Hilfreiche Hände streckten sich uns entgegen und halfen uns über die Bordwand. Das waren nun die Untermenschen nach Hitlers Theorien. Wir verstanden zwar nicht, was sie uns zuredeten, aber der Tonfall war nicht bösartig, eher neugierig und vielleicht auch ein bisschen bewundernd.
Man brachte uns unter Deck und schloss uns in ein enges Gelass, wohl eine Art Vorratslager, Tauwerk und irgendwelche Kartons lagen darin. Es war stockfinster. Wir hatten ein unbändiges Verlangen uns Auszustrecken und die schmerzenden Glieder zu entspannen. Warm genug war es in dem Raum. Aus der umherliegenden Pappe machten wir uns im Dunkeln ein primitives Lager. Wir waren damit noch nicht fertig, da ging die Tür auf, und ein Matrose kam mit zwei Decken und einem großen Topf voll von einem dampfenden Heißgetränk. Aus seinem Geschnatter entnahmen wir, dass wir trinken sollten. Gierig schlürften wir das heiße Getränk, irgend ein Tee musste das sein. Von Tschai hatte der Matrose was gesagt. Viel Geschmack war nicht drin, aber das brachte uns wieder auf die Beine. Das Blut floss wieder ganz anders durch den Körper, und die Übelkeit verschwand auch. Als der Matrose die Tür wieder verschlossen hatte, wickelten wir uns in die Decken ein und streckten uns aus. Vor Erschöpfung war ich bald eingeschlafen. Wie lange ich geschlafen hatte, kann ich nicht sagen.
Als ich wach wurde, war die Tür zu unserem Gelass spaltweit auf, und der Matrose, der uns den Tee gebracht hatte, forderte mich auf mitzukommen. Über der Schulter hatte er eine Maschinenpistole zuhängen. Er führte mich durch enge Gänge, eine Treppe hinauf in eine büroähnliche Räumlichkeit, wo an einem Tisch zwei Mann saßen, einer davon trug Achselstücke auf der Uniformbluse, sicher ein Offizier. Der Matrose machte offensichtlich Meldung und blieb dann an der Tür stehen, die Kalaschnikow im Anschlag. Der Offizier wandte sich über den Dolmetscher an seiner Seite an mich und wollte von mir wissen, was wir in einem Paddelboot mitten auf der Ostsee zu suchen hätten. Ich sagte ihm, dass wir die Nase von Hitlers Kriegswahnsinn voll und versucht hatten, nach Gotland überzusetzen. Wir hätten offensichtlich unsere Kräfte überschätzt und wären dankbar, gerettet worden zu sein. Ich hatte den richtigen Ton gefunden.
Er fragte jetzt nicht unfreundlich nach dem Truppenteil und ob wir der SS angehörten. Freiwillig zeigte ich ihm mein Soldbuch und die entblößten Achselhöhlen zum Beweis. Zum Abschluss ließ er mir sagen, dass wir in ein Gefangenenlager kämen, sobald sie den Hafen anliefen. Der Posten brachte mich in unser Verließ zurück und nahm Bruno mit. Er kam auch nach etwa einer halben Stunde zurück. Er hatte das Gleiche zu berichten. Danach wurden wir genauso verpflegt wie die Mannschaft. Eine dünne Suppe und einen Kanten altbackenes Brot. Nicht gerade luxuriös, aber zur Lebenserhaltung ausreichend.
Nach einigen Tagen liefen wir einen Hafen an. Das musste Memel 1) sein. Nach Stunden brachte man uns an Land. Ich kann mich noch erinnern, dass wir nach dem tagelangen Aufenthalt im Dunkeln kaum sehen konnten und mehr taumelten als gingen. Wir stießen zu einer Gruppe von zehn oder zwölf Gefangenen, die schon auf einem LKW saßen, so einem mit einem kantigen Fahrerhaus, der aussah, als stamme er noch aus dem ersten Weltkrieg. Damit fuhren wir mehrere Stunden, bewacht von drei Soldaten mit MP. Wir kamen in ein Lager am Ufer eines größeren Sees. Die Baracken sahen nach Organisation Todt aus.“
„Schwoager, de Stand is üm. Wi möten uns de Oal bekieken.“ Ich spritzte noch etwas Wasser in die Glut, damit das Feuer nicht aufloderte. Dann nahmen wir die Abdeckung herunter. Die Fische sahen gut aus, appetitlich braun. Bei vorsichtigem Druck unterhalb der Bauchöffnung löste sich die Haut zum Zeichen, dass die Aale richtig gar waren. Wir konnten das Feuer ganz ablöschen und die Aale zum Auskühlen aufhängen.
Die Kinder drängten schon, zur Badestelle zu fahren. Damit ging der Rest des Nachmittags drauf. Zum Abendbrot gab es den frischen Aal. Vorweg ein Schnäpschen, „zus fette Essen,“ wie Schwager Kurt, Fritz Reuters Unkel Brösig zitierend, sagte. Dazu ein frisches Bier und am Ende noch ein Schnäpschen vollendeten den Feriengenuss. Von unserem Fang am Morgen bliebe außer Gräten und Haut nichts übrig. Auch an diesem Abend blieben wir, bis es bei Einbruch der Dunkelheit kühl wurde, vor dem Wohnwagen sitzen. Die Frauen tranken noch etwas Wein, und wir blieben bei Bier. In der Stille des Abends drang das Rauschen des Überlaufs an die Ohren. Ich wurde aufmerksam, als ein deutliches Plätschern das gleichmäßige Rauschen des Überlaufs unterbrach. Das mussten abwandernde Aale sein, die jetzt, bei Einbruch der Dunkelheit, das Hindernis überwanden. Schade, dass wir kein entsprechendes Netzwerk hatten, um einen Fangtrichter darunter zu setzen. Da könnten wir sicher auf bequeme Art und Weise gute Aale fangen, denn abwärts auf die Wanderschaft gingen nur die ausgewachsenen Tiere. Aber wir waren Angler und keine Fischer. Irgendwie reizte das wiederholte Plätschern doch und regte den Jagdinstinkt an. Ich musste immer wieder darauf hören, das Plätschern wiederholte sich alle Augenblicke.
Am nächsten Morgen ging es wieder bei Tagesanbruch auf den See. Diesmal brauchte ich Schwager Kurt nicht erst lange nötigen, nachdem wir die Angeln ausgelegt hatten. Ich langte von allein nach der Bierflasche und befolgte die Zeremonie. In der Morgenstunde fingen wir drei gute Aale, dann kamen nur noch kleine, die wir zurücksetzten, bis auf zwei, die offensichtlich den Haken in der Leber hatten und nicht überleben konnten. Als die Beißerei aufhörte, nötigte ich Kurt doch weiter aus seinem Leben zu erzählen.
„Wir kamen also in ein Sammellager. In den Baracken standen Doppelstockbetten. Das Ganze sah aus wie ein Ausbildungslager. Da blieben wir nur einige Tage, dann wurde ein Transport zusammengestellt. Wir marschierten zur nächsten Bahnlinie, wurden dort in einen Güterwagen gesteckt, in dem der Fußboden mit Stroh bedeckt war und in der Ecke ein Latrinenkübel stand. Darin brachten wir zwei Tage zu. Mal fuhren wir, dann standen wir wieder stundenlang auf irgendwelchen Abstellgeleisen. Wir wussten nicht, wohin es ging. Wir mussten irgendwo mitten in Polen sein. Am Abend des zweiten Tages wurde unser Wagon auf ein Abstellgleis mitten im Wald geschoben. Auf dem Marsch ins Lager zitterten mir die Knie. Wir hatten die letzte Mahlzeit in dem Sammellager bekommen und auf dem Transport nur ein bisschen Wasser getrunken. Auch in diesem Lager standen Baracken. Strohschütten und ein Kanonenofen waren das einzige Mobiliar. Bruno und ich wurden glücklicherweise in einen Raum eingewiesen.
Bei Eintritt der Dunkelheit kamen die Bewohner der Baracken anmarschiert. Sie hatten Sägen und Äxte geschultert. Unser Raum füllte sich mit von der Arbeit und dem unangenehmen Wetter erschöpften Gestalten. Wir erfuhren, dass es sich um ein Arbeitslager handelte. Sie mussten Holz einschlagen und abtransportieren, eine schwere Arbeit. Am Tag hatte jeder nur einen Kanten Brot und ab und zu einen Schluck Ersatzkaffee, den sie sich manchmal am Feuer anwärmten. Abends gab es dann einen Schlag Suppe und Brot dazu. Das war auch an diesem Abend so. Danach fühlte ich mich wohler, wenn auch nicht satt. Dazu war ich zu ausgehungert, aber die warme Suppe im Bauch erzeugte doch ein wohliges Gefühl und ließ mich bald einschlafen.
Am nächsten Morgen drückte man Bruno und mir eine Schrotsäge in die Hand. Eine Art Kapo mit Feldwebelmanieren sagte uns, dass wir damit Bäume fällen und zurechtsägen sollten und an Ort und Stelle eingewiesen würden. Bruno, der mal Zimmermann gelernt hatte, kaum mit der Schrotsäge zurecht. Ich hatte so ein Werkzeug nie in der Hand gehabt und musste mich erst daran gewöhnen. Wir arbeiteten in einem Bestand ausgewa­chsener Kiefern. Bald hatten wir den Bogen raus, sahen, wohin der Baum fallen musste, setzten entsprechend die Fallkerbe und sägten ihn dann ab. Die abgelängten und entästeten Stämme mussten wir dann zusammen mit anderen aus dem Unterholz gewonnenen Hebeln an den Weg transportieren, eine elende Schinderei! So vergingen die Tage. Als dann Ende Januar, Anfang Februar der Winter strenger wurde, kam die Kälte dazu. Wir hatten täglich um die zwanzig Grad Frost, hinzu kam hoher Schnee, so dass die Arbeit im Wald mit unserer ungenügenden Kleidung eine einzige Qual wurde. Vor allem das marode Schuhzeug machte mir zu schaffen. Der Schnee drang schon am Morgen in die Socken ein, schmolz da und machte nasse Füße. Abends war alles steif gefroren. Bald waren mir die Füße angefroren und platzten auf. Ich musste ins Spital. Da war ein Sanitäter, und zweimal in der Woche kam ein Arzt und sah nach uns, aber der konnte auch kaum helfen, wirksame Medikamente standen nicht zur Verfügung. Die Füße wurden eingepudert, das linderte ein wenig die Schmerzen, und bandagiert.
Bruno war beim Transport der Stämme in einer sumpfigen Niederung eingebrochen und hatte mit dem nassen Zeug bis zum Abend weiter arbeiten müssen. Da war es kein Wunder, dass er mit einer Lungenentzündung auch in die Krankenstube kam. Auch bei ihm fehlten die Medikamente. Eine Woche später war er gestorben. Das ist mir mächtig an die Nieren gegangen. Wie sollte das hier weiter gehen? Im März waren meine Beine wieder einigermaßen verheilt, und ich musste wieder jeden Tag mit hinaus in den Wald.
Am achten Mai ließ man uns abends auf dem Appellplatz antreten. Der Lagerleiter ließ uns über einen Dolmetscher mitteilen, dass die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert hatte und so der Krieg zu Ende sei. Eigentlich hatten wir das schon längst erwartet, aber jetzt, da es so weit war, traf uns das doch mächtig. Wie ging das nun weiter? Was wurde aus uns?
Zunächst blieb alles beim Alten. Tag für Tag mussten wir in den Wald. Als dann Tauwetter einsetzte und der Fluss, der durch unser Waldgebiet floss, das musste einer der zahlreichen Nebenflüsse der Weichsel sein, wieder eisfrei war, mussten wir die Stämme zu Flößen zusammenstellen und auf die Reise schicken. Wohin, wusste keiner Genau. Wir vermuteten, dass das Holz zum Wiederaufbau von Warschau gebraucht wurde. Andere meinten, das Holz ließen die Russen zu Brettern schneiden und dann nach Russland abtranspor­tieren.
So verging der Sommer. Statt der Kälte quälten uns jetzt die Mücken. In dichten Schwärmen fielen sie über uns her, und es war unmöglich, den Oberkörper zu entblößen.
Im Oktober war das wohl schon, als bei einem Appell verkündet wurde, Spezialisten werden gesucht Die sollten dann in einem anderen Lager in ihren Berufen arbeiten. Auch wurden bessere Lebensbedingungen versprochen. War das die Gelegenheit, aus dieser Knochenmühle herauszukommen? Kurz entschlossen meldete ich mich dazu.
Ein paar Tage später setzte man uns auf einen LKW und brachte uns in ein Sammellager. Dort wurden wir neu eingekleidet. Ich bekam sogar neue Schuhe, die dazu auch einigermaßen passten und eine Tschapka. Einige Tage später gingen wir auf Transport. Ein Güterwagen mit Strohschütten. In der Ecke ein Kübel für die Notdurft. Ein Kanister, wohl fünfzig Liter fassend, mit Trinkwasser, das war die Einrichtung.
Auf der Reise standen wir häufig auf irgend welchen Abstellgeleisen, stundenlang, einmal einen ganzen Tag. Bei solchen Gelegenheiten mussten wir den Abortkübel entleeren und säubern und den Wasserkanister auffüllen. Ab und zu gab es auch einen Schlag Suppe oder etwas Tee. Ansonsten bekamen wir nur Brot. Unser Zug wurde immer größer. Mehrmals wurden neue Wagons angekoppelt. Dann fuhren wir mehrere Tage mit nur geringen Unterbrechungen. In den letzten Stunden wurde es auffällig wärmer. Wir zogen unsere Steppjacken aus und legten die Pelzmützen ab. Als wir dann längere Zeit hielten, hörten wir im Morgengrauen Vögel singen, die mir unbekannt vorkamen. Wo waren wir? Als wir dann aussteigen durften, sahen wir in der Ferne unklar im Morgendunst die Konturen einer Gebirgskette. Auf der anderen Seite sahen wir Wasser bis zum Horizont. Wir waren am Meer und vor einem hohen Gebirge. Das konnte nur das Schwarze Meer und der Kaukasus sein. Wir waren in Suchumi. So begannen die schönsten Jahre meines bisherigen Lebens.“
„Na Schwoager, ik glöw wi könen noah Hus führen. Dor rögt sik nix miehr.“ „Man tau, loat uns inpacken.“ Drei gute Aale hatten wir am frühen Morgen gefangen. Dann kamen nur noch Knirpse, die wir bis auf zwei, die zu tief geschluckt hatten, wieder auf die Weide geschickt und sie aufgefordert hatten in drei oder vier Jahren wiederzukommen. Dann, halber Vormittag, war ein Schwarm guter Barsche da, und wir fingen einige. Schwager Kurt sagte: „Dat giwt hüt tau Oabend ‘ne schöne Fischsupp.“ An Land erst wieder eine Tasse Kaffee und eine Schnitte. Dann machte Kurt die Aale sauber, während ich die Barsche abschruppte. Ich hatte mein Weidmesser mitgebracht, und die Knochensäge daran eignet sich hervorragend zum Abschuppen. Bessere Barsche schuppen sich überhaupt so schwer, und mit einem gewöhnlichen Messer wäre das eine Quälerei. Am Nachmittag war wieder Badefahrt angesagt.
Die Fischsuppe am Abend war vorzüglich gelungen. Schwager Kurt war des Lobes voll. Er aß überhaupt gern Fisch. Beim Abendbrot gaben die Frauen uns zu verstehen, dass wir unserem Vergnügen nachgingen und sie nicht aus dem Wohnwagen herauskämen. Sie könnten doch mitkommen, entgegneten wir. Morgens so früh aufstehen wollten sie allerdings nicht. Wir kamen überein, am nächsten Abend nach dem Abendbrot mit den Frauen noch hinauszufahren, wenn das Wetter entsprechend war. Morgens wollten wir trotzdem noch angeln. Nachdem wir am anderen Morgen die Angeln ausgeworfen hatten, fing Schwager Kurt von allein zu erzählen an.
„Nach einem kurzen Marsch kamen wir am Rande der Stadt in einem größeren im Bau befindlichen Objekt an. Mehrere Baracken wurden uns als Behausung zugewiesen. Das waren keine Massenquartiere, immer drei Mann bezogen ein Zimmer. Auf dem Transport hatte ich mich mit Heinz, auch einem Schlosser und Martin, einem Tischler angefreundet. Wir bezogen gemeinsam ein Zimmer, das außer den Bettstellen nur einen Tisch und drei Hocker und ein Spind enthielt und trotzdem einen Hauch von Zivilisation verbreitete. In den ersten Wochen wurden wir gemeinschaftlich verpflegt. Dann bekamen wir für unsere Arbeit regelrechten Lohn, und wir mussten uns allein versorgen. Wir drei wechselten uns in der Hauswirtschaft ab. Der Betroffene ging dann eine Woche lang nicht zur Arbeit. Das war alles eingeplant. Der musste dann vom Einkaufen in der Stadt auf dem Basar über das Kochen bis zum Saubermachen alles erledigen. Wir arbeiteten, nachdem sich der Betrieb eingelaufen hatte, eigentlich nur gewisse Stunden und hatten meistens pünktlich Feierabend. Sonntags wurde nicht gearbeitet. Wir bekamen so viel Lohn, dass wir gut leben konnten. Auf dem Basar gab es für wenig Geld herrliches Obst und Gemüse, das wir lange entbehrt hatten. Jetzt nutzten wir das aus. Ich erinnere mich noch an die herrlichen Tomaten und Melonen, an Äpfel und Birnen. Granatäpfel lernte ich dort kennen.
Unser Tischler vervollständigte unser Mobiliar. Nach und nach kamen ein Regal, Konsolen und eine Hausbar dazu. Die machte sich nötig, wir hatten ein ganzes Sortiment alkoholischer Getränke angesammelt. Auf dem Basar war Selbstgebrannter zu haben. Den haben wir dann mit Fruchtsaft und Zucker zu Likör verarbeitet. Ein besonderer Genuss war unser Eukalyptuslikör, den Heinz immer ansetzte. Die Bäume wuchsen zahlreich in der Nähe des Lagers. Am liebsten tranken wir den grusinischen Portwein „Höchste Sorte,“ einen goldgelben, sehr süßen Likörwein. Der schmeckte wunderbar, aber man musste sich vorsehen, wenn man reichlich davon trank, passte am nächsten Tag die Mütze nicht.
Wenn wir Lust hatten, sonntags in die Berge zu fahren, musste einer feststellen wie viele mitfahren wollten und den LKW bestellen. Da kam zwar ein Wachposten mit, der sich kaum um uns kümmerte, der bekam seinen Wodka, und wir hatten unsere Ruhe. Manchmal waren die so besoffen, dass wir Mühe hatten, sie wieder nach Hause zu kriegen. Seine Kalaschnikow hängte sich dann einer von uns um den Hals.
Im zweiten Jahr gab es eine umfangreiche Bibliothek deutschsprach­licher Literatur. Hier machte ich erstmalig mit Fritz Reuter Bekanntschaft. Zuerst war, das Plattdeutsche zu lesen gewöhnungsbedürftig, aber dann habe ich alles, was ich kriegen konnte, mit großem Genuss gelesen, besonders „Ut miene Stromtied.“ Unkel Bräsig und seine „zweinähtigen Wichsstiebeln“ und Jung Jochens: „Mudding, jung Bauschoan fret all de Eiers up,“ sind mir für immer im Gedächtnis geblieben.
Mit großem Interesse habe ich die Dramen Schillers gelesen. Das ging los mit „Kabale und Liebe“ und „Die Räuber.“ Was ich darin fand, sah nicht nach Verherrlichung des Soldatentums aus, eher im Gegenteil. Wo stand das: ,,... frisch auf Kameraden aufs Pferd aufs Pferd...“ Schließlich las ich den „Wallenstein“ und dort fand ich das Landsknechtslied am Ende von „Wallensteins Lager.“ Aber da gab es mehr als die drei Strophen, die wir damals gesungen hatten. Die eine habe ich noch im Kopf. Sie hat mir damals viel Kopfzerbrechen gemacht. „Der Reiter und sein geschwindes Ross, sie sind gefürchtete Gäste, es flimmern die Lampen im Hochzeitsschloss, ungeladen kommt er zum Feste. Er wirbt nicht lange, er zeigt nicht Gold, im Sturm erringt er den Minnesold.“ Mir wurde klar, dass mit diesen Strophen die Verherrlichung des Soldatenlebens ins Gegenteil verkehrt wurde. So hatte man uns damals manipuliert, und Schiller, dessen Namen man nicht verschweigen konnte, vor ihren Kriegskarren gespannt. Auch mit Goethe habe ich es versucht, aber damit kam ich nicht so recht klar.
Dann wurde auf Plakaten von der Lagerleitung für Antifa- Vorträge geworben. Zeit hatten wir abends, und ich dachte mir, dummer kannst du davon nicht werden, und ging hin. Zuerst war ich sehr skeptisch den dort entwickelten Theorien gegenüber, aber alles war so logisch, und von Abend zu Abend hörte ich aufmerksamer zu.
In dieser Zeit fühlte ich mich körperlich recht wohl. Die regelmäßige und abwechslungsreiche Ernährung und die geringere körperliche Belastung hatten ihre Wirkung auf meine Kondition. Nur die Beine machten mir zeitweise sehr zu schaffen, weshalb ich den Lagerarzt aufsuchte. Als der meine Papiere ansah, fragte er: „Was, aus Demmin kommen Sie? Da bin ich auch zu Hause.“ Er sei aus Demmin gebürtig, habe in Greifswald studiert und kurze Zeit vor dem Krieg eine Praxis in der Augustastraße betrieben, bis er eingezogen wurde und als Truppenarzt Dienst tun musste. Er gab sich große Mühe mit meinen Beinen. Ich war froh Beziehungen zu diesem Mann zu haben. Immer wenn ich ihn besuchte, tauschten wir Erinnerungen aus und schwärmten von unserer fernen Heimat.
Zuerst wussten wir nicht, was wir hier aufbauten und dann unterhielten. Langsam sprach es sich herum. Einer wusste dies, ein anderer das, den Rest konnten wir uns zusammenreimen. Dieses Forschungszentrum ließen die Russen für die Professoren von Ardenne 1) und Hahn 2) errichten, die sich bereit erklärt hatten, ihre Forschungen für die Sowjetunion fortzusetzen, da sie auf absehbare Zeit in Deutschland keine Gelegenheit dazu haben würden. Dass es um irgendwelche Grundlagenforschungen auf dem Gebiet der Chemie und Physik ging, wussten wir. Was wir nicht ahnten, war die Zuarbeitung zur Entwicklung der Atombombe durch die Russen. Das ist mir erst später klar geworden.
Damals habe ich auch viel in der Bibel gelesen. Was hatte es mit diesem Buch auf sich? Ich wollte das rausfinden. Besonders die Lebensgeschichte von Jesus im neuen Testament interessierte mich. Diesen Menschen muss es wirklich gegeben haben, zu dieser Gewissheit bin ich gekommen, aber ebenso gewiss war mir, dass die Wunder die dieser Mann vollbracht haben sollte, nicht denkbar waren. Der Christ sollte ja auch nicht wissen, sondern glauben, und das ging nur gegen den Strich.“
Inzwischen war unsere Zeit wieder einmal abgelaufen, die Morgenbeißzeit war vorbei, und ein paar gute Aale lagen im Kübel. Außerdem wollten wir ja abends mit den Frauen wieder rausfahren. An Land waren die Fische wieder sauber zu machen, Räucherholz war zu holen. Kurt hatte noch am Bootsmotor herumzubasteln. Der war nur schwer angesprungen. So verging der Vormittag. Nachmittags nach einer kurzen Mittagsruhe war die Sitzung vor dem Räucherofen an der Tagesordnung. Der Rest des Nachmittags gehörte den Kindern. Wir fuhren rüber nach Zwenzow zum Baden. Beizeiten gab es Abendbrot, natürlich wieder Räucheraal. Die Kinder waren nicht erbaut, dass sie noch am hellen Tag ins Bett sollten. Ich hatte auch kein gutes Gefühl dabei, erst recht nicht Trude, aber wir ordneten uns als Gäste dem Willen des Hausherren unter.
Das Angeln in den Abendstunden hat seinen eigenen Reiz. Als wir die Angeln zu Wasser hatten, stand die Sonne schon niedrig über dem Horizont und spiegelte sich auf der blanken Wasserfläche wider. Wir hatten einen kleinen Klapptisch mit. Darauf stellten die Frauen Weingläser und eine Weinflasche. So hatte der Abend einen besonderen Reiz. In der sinkenden Sonne ein Glas Wein auf dem Wasser trinken und ab und zu einen Aal aus dem Wasser ziehen und dabei unsere Frauen, das hatte schon was. Langsam wurde es finster und kühl. Wir wurden uns einig, den Abend zu beenden, auch weil wir unruhig wurden, der Kinder wegen. Die hatten, als wir ankamen, noch kein Auge zugemacht und waren jetzt auch nicht so schnell zur Ruhe zu bringen. Es wurde gut Mitternacht, bis alles schlief.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Trabi zur Useriner Mühle um zwei Milchkannen voll Trinkwasser zu holen. Auf halbem Wege am Kanal saßen zwei Angler. Als ich zurückkam, hielt ich an und fragte sie nach ihrem Erfolg. Sie gaben bereitwillig Auskunft. Um fünf Uhr waren sie gekommen und hatten jeder ein paar gute Aale gefangen. Also hier lohnte sich ein Versuch offensichtlich auch, falls sich da draußen nichts mehr rührte.
Eine Stunde später waren Motorradgeräusche zu hören. Mischa, der russische Sergeant, kam mit einer schweren Beiwagenmaschine und brachte die wöchentliche Lieferung: eine Kiste Staro Pramen. Als Belohnung wurde er mit einer Flasche Bier und einem Räucheraal bewirtet. Er war des Lobes voll über sein Frühstück und erzählte uns, dass es immer schwieriger wurde, das Bier zu bekommen, er durfte normalerweise nicht im Offizierskasino einkaufen. Mischa konnte ein paar Brocken Deutsch; Kurt antwortete mit ebenso dürftigem Russisch, und ich kriegte gerade so mit, worum es ging.
Bei einem Streifzug am Ufer sah ich einen Krebs im flachen Wasser zwischen den Rohrhalmen. Dabei fiel mir ein, dass wir gerade im Juli auf Krebsfleisch in der Mittagsstunde gute Aale gefangen hatten. Ich machte mir eine Krebsgabel und fing den Krebs. Im Setzkescher würde der überleben bis zum nächsten Angeltag. Das war am Morgen darauf. Wie immer hatten wir dem See wieder zugeprostet und in der Morgenstunde die ersten Aale gefangen. Kurt war nicht so recht in Erzählstimmung, ich musste ihn erst anstoßen:,, Na Schwoager, wat is? Ik bün gespannt, wie diene Geschicht wieder geiht.“
„Die Jahre vergingen wie im Fluge. Im Herbst neunundvierzig erfuhren wir aus einer zwei Wochen alten Ausgabe der Zeitung „Tägliche Rundschau,“ dass es zwei deutsche Staaten gab. In dem von den Westmächten besetzten Gebiet nannte sich der Staat Deutsche Bundesrepublik mit der Hauptstadt Bonn, unter russischer Besatzung nannte sich der Staat Deutsche Demokratische Republik. In dem Zusammenhang schrieb die Zeitung, dass damit ein Schluss-Strich unter den Kriegszustand gezogen war. Auch seien alle Kriegsgefangenen in ihre Heimat zurückgekehrt. Diese Nachricht verbreitete sich im Lager wie ein Lauffeuer und wirkte wie Hefe im Kuchenteig, sie versetzte die Stimmung in den Wohnbaracken in eine Gärung, die nicht mehr zu bremsen war. Was ist mit uns? Sollen wir hier ewig bleiben? Wir wollen auch nach Hause. Wir müssen unsere Forderungen mit Nachdruck stellen!
Spontan kam die Forderung auf, am nächsten Tag nicht zur Arbeit zu gehen und so die Lagerleitung zu zwingen, mit uns zu verhandeln. Aber da waren wir auf dem Holzweg. Über den Lagerfunk ließ uns die Leitung als Ultimatum mitteilen, dass am nächsten Morgen jeder wieder an die Arbeit gehen sollte, andernfalls würden Zwangsmaßnahmen nötig. Wir hätten offensichtlich vergessen, dass wir Kriegsgefangene waren. Wir gingen morgens nicht zur Arbeit. Bis Mittag blieb alles ruhig. Dann fuhr eine Reihe von Lastwagen mit Soldaten vor. Man trieb uns auf dem Appellplatz zusammen. Der Lagerleiter sagte uns über den Lagerfunk:
Uns gehe es offensichtlich zu gut, und es werde Zeit, uns in unsere Grenzen zurückzuweisen. Unter den Augen von Soldaten durften wir einige persönliche Sachen zu einem Bündel packen, dann mussten wir wieder antreten und abmarschieren. Wo wir angekommen waren, stand ein Güterzug bereit, wie ich ihn in schlechter Erinnerung hatte. In den Wagons Strohschütten und ein Kübel in der Ecke erinnerten ebenfalls an den Transport hierher. Rund eine Woche waren wir unterwegs. Ein paar Mal ein Schlag Suppe und etwas Brot waren die einzige Verpflegung und ließen uns wehmütig an das grusinische Obst und Gemüse denken.“
Kurt war bei den letzten Sätzen langsamer geworden. Jetzt brach er ab und sagte: ,,Ik bün meud as ein Hund un möt ierst eis de Oogen taumoaken un öwerdrusen.“ „Jo, jo, Angelurlaub strengt an. Schloap ruhig eis öwer: Ik beholl dien Angel mit int Oog.“
Als die Sonne höher gekommen war, hatte Kurt seine Erfindung, die Flaschenzug- Angel, zu Wasser gelassen und mit Krebsfleisch beködert. Bei dieser Angel, die weder Schwimmer noch Rute hatte und in drei Schleifen, die von einer leeren Schnurrolle zurückgehalten wurden, auf dem Kunstlederpolster der Sitzbank lag, musste der Fisch bei einem Biss die Schnur abziehen.
Kurt war offensichtlich fest eingeschlafen, selbst der heftige Knall beim Schallmauerdurchbruch eines Düsenjägers ließ ihn nicht reagieren. Als dann etwa zehn Minuten später ein Fisch mit kaum hörbarem Rascheln die Schnur über das genarbte Kunstleder zog, war er im Nu hell wach und zog bald darauf einen dicken Aal aus der Tiefe. „Kurt dor staun ik öwer, wenn de Fliegers knallen, schlöpst du ruhig wieder, wenn de Oal bit, an dat is würklich kum tau hüren, büst du gliek woak.“ Daraufhin erzählte mir Kurt, dass er ein Schlafkünstler sei. Beim Militär wäre er sogar beim Marschieren eingeschlafen. Jetzt würde er regelmäßig bei der Sitzung des Kreislandwirtschaftsrates einschlafen. Das sei ihm sogar peinlich. Natürlich hatte das Kritik eingebracht, und er hatte den Auftrag erhalten, zum Arzt zu gehen und sich daraufhin untersuchen zulassen. Der Arzt habe ihn gründlich untersucht und nichts Einschlägiges festgestellt. Sein Kommentar war: ,,Wenn Sie bei solchen Tagungen einschlafen, liegt das bestimmt nicht an Ihnen, dann hat das andere Ursachen.“ Nach dem er den Befund des Arztes vorgelegt hatte, einigte man sich darauf; ihn zu wecken, wenn das für seinen Betrieb Wichtige an der Reihe wäre.
Krebsfleisch im Juli in der Mittagsstunde fing also auch auf diesem See. Also musste ich für den nächsten Angeltag wieder zusehen, dass ich einen Krebs gefangen kriegte. Am Nachmittag waren wir beide uns vor dem Räucherofen darin einig, das Räuchern habe etwas Romantisches an sich, und Kurt kam auf den Gedanken, wir müssten mal etwas am Spieß braten. Er spann den Faden weiter. Die Frauen sollten zusehen, zwei Enten zu kaufen. Er wollte den Bratspieß anfertigen, und dann sollte es Ente am Spieß zu Mittag geben. Er war ganz fasziniert von diesem Gedanken. „Schwoager, dat is so ‘ne richdige Zigeunerromantik, so wat möt eis sin.“
Die Frauen erhielten den Auftrag, die Enten zu besorgen. Kurt suchte Material zusammen, machte den Bratspieß, hinten mit Kurbel, und ich holte einen großen Sack voll trockenem Buchenholz aus dem Wald. Am nächsten Tag sollte es losgehen. „Wi möten woll Klock tein anfingen, wenn de Enten goar warden sölen.“ Ich erhielt den Auftrag, den Spieß zu drehen und das Feuer zu unterhalten. In der ersten halben Stunde ereignete sich zunächst gar nichts, es war nur abzusehen, dass der Holzvorrat bei Weitem nicht reichte. Dann fingen die Enten an zu weinen, will sagen, das Fett begann zu schmelzen und leckte in die Glut. Ich musste wieder in den Wald, zwei Säcke Holz holen und Kurt löste mich solange am Bratspieß ab. Als ich wiederkam, waren die Enten zu reichlichen Tauben geschrumpft, aber noch längst nicht gar. Erst nach einer weiteren Stunde, die Mittagszeit war längst überschritten, wagten wir, unser Brutzelgut zum Essen freizugeben. Schade, der Rotkohl war durch das lange Warmhalten breiig geworden, und die Enten waren noch nicht richtig weich. Allerdings hatten sie vom Geschmack her ihren besonderen Reiz, so halb gebraten und halb geräuchert.
Schwager Kurt war selig, verdrehte genussvoll die Augen und sagte: ,,Weitst wat Koarl, de Zigeunerromantik is noch nich vullkoamen.“ „Nanu,!“ sagte ich, „Worüm denn nich?“ „Wi haden de Enten klauen müsst.“
An diesem Tag ging noch ein heftiges Gewitter nieder. Abends hatte sich das Wetter wieder beruhigt.
Wir kamen überein, unser Glück in der Abendstunde im Kanal zu versuchen. Nach dem Gewitter musste der Aal doch laufen. Schnell hatte ich entsprechendes Geschirr gerichtet, ich hatte alles für alle Fälle mitgebracht. Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang suchten wir uns günstige Stellen zwischen dem Kraut und warfen die Angeln ein. Die Beißerei ging auch bald los, aber zunächst kamen nicht akzeptierbare Knirpse, erst bei Sonnenuntergang, die Schwimmer waren kaum noch zu sehen, der erste gute Fisch. In der noch verbleibenden Stunde fingen wir noch zwei gute Aale.
Kurt schmiedete einen Plan: „Schwoager, ik hew mi dacht, wi möten an‘n letzten Dag mit de Kinner Afangeln moaken, un dorbi möt jeder ein Andinken an desen Urlaub ruttrecken, ‘ne Kleinigkeit, de ehr doran erinnert.“ „Dat könen wi moaken, blot wo kriegen wi so wat her?“ „De Frugens willn jo morgen tau Stadt führen, denn könen sei ein Andinken köpen.“
Am nächsten Morgen hatten wir Startverbot, die Frauen fuhren mit dem Bus nach Neustrelitz, und wir hatten der Kinder wegen Hausarrest. Da war Zeit, die sich angesammelten Aale zu räuchern und einen gemütlichen Plausch vor dem Räucherofen zuhalten. Nach dem Aufräuchern und dem ersten Schluck aus der Staro Pramen Flasche räusperte sich Kurt, sein Gesicht verfinsterte sich und es fiel ihm sichtlich nicht leicht in seiner Erzählung fortzufahren.
„Eine reichliche Woche waren wir unterwegs. Es wurde von Tag zu Tag kälter. Uns wurde klar, dass wir nach Sibirien unterwegs waren. Ich mag eigentlich gar nicht darüber sprechen, nur so viel: Alles, was wir damals in Polen in dem Waldlager erlebt hatten, kam jetzt in verstärkter Form zurück. Harte Arbeit im Wald, das Lager fern von jeder Zivilisation in der Taiga, die dürftige Verpflegung und die primitive Unterbringung übertrafen alles bisher Erlebte an Unmenschlichkeit und Härte. Im Winter Dauerfrost und Kälte, oft unter vierzig Grad, im Sommer Hitze und Insektenplage führten dazu, dass wir uns im Winter nach dem Sommer und im Sommer nach dem Winter gesehnt haben.
Das Schlimmste dabei war aber das Gefühl der grenzenlosen Verlassenheit. Offiziell gab es uns wohl in Deutschland nicht mehr. Viele wurden mutlos und siechten dahin, hatten so nicht Vitalität genug, den Unbilden der Natur zu trotzen und starben. Ich hatte den unbändigen Willen zu überleben. Das gab mir die Kraft, mit allem fertig zu werden. Einmal musste es doch vorbei sein. So verging Jahr für Jahr.
Im März dreiundfünfzig teilte man uns mit, Stalin sei verstorben. Sollte das vielleicht für uns Hoffnung bedeuten? Zunächst blieb alles beim Alten. Im Sommer lief das Gerücht durch das Lager, dass unsere Heimkehr bevorstand. Einer von der Wachmannschaft hatte es verlauten lassen. In einem Teil des Lagers gab es eine abgesonderte Abteilung mit russischen Zwangsarbeitern. Davon wurde der größte Teil entlassen und der Rest abtransportiert, soweit wir das mitbekommen hatten. Irgendwas war anders geworden.
Dann erhielten wir eines Tages den Marschbefehl, und wir marschierten bis zur nächsten Bahnstation, wo wieder Güterwagen bereit standen. Und wieder Strohschütten als Lager und Kübel in der Ecke, ab und zu ein Kanten Brot und eine Kelle Rennfahrersuppe, wie wir das schon kannten, aber es ging westwärts, das bekamen wir mit, trotz der geschlossenen Viehwagen. Irgendwo an der Wolga, es soll unweit von Stalingrad gewesen sein, kamen wir in ein Durchgangslager, wo wir ein bisschen besser, vor allem regelmäßig verpflegt wurden. Dort hat man uns gründlich untersucht und zum Teil neu eingekleidet mit Kleidungsstücken aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen.
Nach drei oder vier Wochen ging ein Transport ab, ich war dabei. Am vierten Tag kamen wir in Frankfurt an der Oder an. Ich wusste gar nicht, dass ich noch weinen konnte. Als wir auf dem Bahnhof in Deutsch begrüßt wurden und es Gewissheit geworden war, nach zwölf langen Jahren endlich nach Hause zu kommen, habe ich geheult wie ein Schlosshund.
Vierzehn Tage Quarantäne vergingen wie im Fluge, dann bekam ich eine Fahrkarte nach Demmin. Ich bin in Utzedel ausgestiegen und über Leistenow und Gatschow nach Hause gegangen. Jeden einzelnen Schritt habe ich dabei genossen, die Luft genüsslich eingeatmet. Dabei hatte ich einen Kloß im Hals, es fehlte nicht viel und ich hätte wieder geheult Endlich wieder zu Hause!“
Unsere Stunde warum, unsere Aale gut. Wir hängten sie zum Auskühlen in die Ständer und löschten das Feuer. Zu Mittag kamen unsere Frauen aus der Stadt zurück. Sie hatten für die drei Mädchen je ein kleines Segelboot und ein paar Figuren gekauft. Natürlich durften die Kinder das nicht sehen. Heimlich steckten wir die Andenken zusammen mit einem kleinen Stein, das Ganze sollte ja auch absinken, in Plastbeutelchen, die wasserdicht verschlossen wurden. Aber noch waren ja ein paar Tage Zeit.
Am Nachmittag bemerkte ich, dass Kurt mit der jüngsten Tochter unzufrieden war. Luise traute sich nicht, dort zu schwimmen, wo sie nicht mehr mit den Füßen auf den Grund kam. Auf dem Rückweg wirkte er nachdenklich und verbissen.
Am Schleusenkanal angekommen, steuerte Kurt das dem Wohnwagen gegenüberliegende Ufer an.
Dann versuchte er, den Ehrgeiz der Mädchen anzustacheln: „Wer von euch traut sich ‚ über den Kanal zu schwimmen?“ Anne ließ sich nicht lange locken, glitt ins Wasser und schwamm zum anderen Ufer. Petra wollte nicht zurückstehen, nach einigem Zögern folgte sie Annes Beispiel. Luise konnte sich nicht entschließen. Sie war blass wie ein Magerkäse geworden und zitterte am ganzen Körper. Sie konnte einen wirklich leid tun, sie war offensichtlich noch nicht so weit.
Kurt wollte das wohl nicht sehen, nannte sie eine „Bangbüx“, und sie würde das nie lernen.
Letztendlich hob er sie über die Bordwand in das Wasser. Luise weinte, es blieb ihr nichts anderes übrig, als loszuschwimmen. Natürlich passten wir auf, dass ihr nichts passierte. Sie tat mir unendlich leid, noch mehr als ich sah, dass sie vor Angst nicht Schwimmen konnte. Ich fühlte mich mitschuldig, aber ich konnte doch Kurt bei seinen Erziehungsmaßnahmen nicht dreinreden.
Am nächsten Morgen saßen wir unsere Zeit auf dem See ohne Erfolg ab. Es war, als gäbe es keine Aale mehr im See, nur die Flaschenzugangel, mit Krebsfleisch beködert brachte ihren Aal. Da hatte auch der Schluck Staro Pramen für den See nicht geholfen. Da war Zeit genug zum Erzählen.
„Ich war also endlich wieder zu Hause. Mutter kochte jeden Tag gutes Essen, obgleich sie offensichtlich auch erhebliche gesundheitliche Schwierigkeiten hatte. Auch an ihr waren die zwölf Jahre nicht spurlos vorübergegangen.
Dann musste ich mich nach Arbeit umsehen. Mein Bruder Hermann arbeitete als Traktorist in der MAS1) Sarow und hatte mir gesagt, dass dort immer Schlosser gebraucht würden. Also setzte ich mich auf Vaters Fahrrad und fuhr nach Sarow. Dort wurde nicht lange gefragt, und man sagte mir, dass ich am kommenden Montag anfangen könnte, und ich würde mich schon einarbeiten, auch wenn Traktoren und Landmaschinen noch nicht mein Arbeitsgebiet gewesen sind. So wurde ich MAS- Schlosser.
Nachdem ich mich wieder eingelebt hatte und einigermaßen herausgefüttert war, erfasste mich eine unbändige Lebenslust, kein Tanzvergnügen in den umliegenden Dörfern ließ ich aus, und mit rund dreißig Jahren wurde es ja auch langsam Zeit, eine Familie zu gründen.
Als man bei der Arbeit merkte, dass ich nicht auf den Kopf gefallen war, machte man mir den Vorschlag, ein Fernstudium zum Landmaschineningenieur aufzunehmen. Meinen Einwand, ich hätte doch zu wenig Vorkenntnisse auf dem Gebiet der Mathematik und Physik, wischte man mit der Bemerkung weg, für solche Fälle gäbe es einen Vorbereitungslehrgang. Mir blieb nichts weiter übrig als einzuwilligen. Ich wollte ja auch vorankommen, und wenn das was werden sollte, hatte ich keine Ursache mich lange zu zieren.
Den Vorbereitungslehrgang in Friesack schloss ich mit gutem Erfolg ab und wurde automatisch an der Fachschule in Wartenberg immatrikuliert. Mein Betrieb unterstützte mich dabei, indem ich jede Woche einen Studientag erhielt, aber voll bezahlt wurde.
Sechzig bestand ich mit gutem Ergebnis die Abschlussprüfungen. Das intensive Studium der Gesellschaftswissenschaften bewirkte, dass ich die Vorbehalte, die in dem Straflager in der sibirischen Taiga entstanden waren, mehr und mehr abbaute. Auch trug wohl die Zeit dazu bei, das dort Erlebte in Vergessenheit geraten zulassen. Ich trat nach mehreren diesbezüglichen Aussprachen in die SED ein. Das und meine Leistungen im Fernstudium führten dazu, man schlug mir vor, ich sollte den neu erbauten MAS- ­Leitbetrieb des Bezirkes in Neustrelitz / Tannenhof übernehmen.
Inzwischen hatte ich Hilde kennen gelernt, und wir beide sind bei den Schwiegereltern auch miteinander bekannt geworden. Nachdem Mutter gestorben war und wir geheiratet hatten, zogen wir nach Tannenhof um.
In den ersten Wochen hatte ich große Schwierigkeiten, meine Arbeit zu überschauen. Es gab Tage, an denen ich am liebsten alles hingeschmissen hätte. Die Kollegen hatten Nachsicht mit mir, und ich bekam so nach und nach den Betrieb in den Griff.
In letzter Zeit gibt es neue Schwierigkeiten: Wir erhielten den Auftrag, eine Produktionsabteilung für Rübenaufbereitungsmaschinen zu errichten. Die Wissenschaft vertrat die Ansicht, dass mit dem Ertrag von einem Hektar Zuckerrüben weit mehr Schweine gemästet werden könnten als von einem Hektar Kartoffeln oder Getreide. In den großen LPG sollte die Schweinemast auf Zuckerrübenbasis umgestellt werden. Dieser Produktionsbetrieb macht mir zusätzliches Kopfzerbrechen, so dass ich mich manchmal nach weniger Verantwortung und mehr Ruhe sehne, aber so ist wohl das Leben, irgendwo gibt es Grenzen.“
Auch an einem weiteren Morgen waren wir auf unseren Koordinaten erfolglos geblieben, rätselten wir herum, was wir unternehmen sollten. Ortskundige hatten Kurt geraten, es doch mal in den Kalklöchern zu versuchen.
Wir versuchten es am Abend. Wir suchten nach einer günstigen Angelstelle. Das Wasser war hier überall nur etwa einen halben Meter tief und mit Grundmoos bewachsen. Eigentlich waren diese Umstände nicht gerade verlockend, das Geschirr auszuwerfen. Wir versuchten es trotzdem. Erst nach Sonnenuntergang biss ein guter Aal. Wir fingen noch zwei manierliche Fische, aber irgendwie machte das keinen Spaß. Wir packten ein und fuhren nach Hause.
Wir versuchten, mit dem Spinner einen Hecht zu fangen. Bei unseren intensiven Bemühungen trafen wir keinen beißlustigen Eso an. Also versuchten wir es wieder mit dem Aal mit unterschiedlichem Erfolg. So vergingen die letzten Urlaubstage.
Am letzten Tag machten wir das vorbereitete Abangeln mit den Kindern. Jede bekam eine Zigeunerangel und eine Stelle am Kanal zugewiesen. Weil die Schwimmer mit konstanter Boshaftigkeit an der Oberfläche blieben, verlor der Petrijünger-Nachwuchs bald die Geduld: ,,Wo bleiben die Fische?“ „Warum beißt bei mir keiner an?“ usw.
Schließlich Kurt: ,,Schwoager, lenk moal de Dierns af. Seih tau, dat du sei ein End wegkriegst, dat ik de Büdels anhingen kann!“ „Oh, da ist ein Rehlein!“ Natürlich wollten die Mädchen das sehen. Auf diese Weise bekam ich sie vom Ufer weg. Natürlich war da kein Rehlein zu finden, und wir mussten weiter weglaufen. Schließlich drehten wir um. Das Reh sei weggelaufen, entschuldigte ich mich. Langsam, damit Kurt ausreichend Zeit hatte, gingen wir zurück. Die Schwimmer der Angeln waren verschwunden, und jede zog mit Mühe den vermeintlichen Fisch aus dem Kanal. Etwas enttäuscht, dass kein großer Fisch am Haken hing, aber auch neugierig lösten sie die Verschnürung der Beutel und entnahmen die Souvenirs, die sie noch lange an die Urlaubstage erinnern sollten.
Am nächsten Morgen begannen wir beizeiten unsere Sachen zusammenzusammeln und zu packen. Was, das alles sollte in den kleinen Trabi hinein? Kaum zu glauben, dass das alles auf der Herfahrt drin war. Irgendwie ging letzten Endes doch wieder alles hinein. Den Abend vorher hatten wir noch einen Aal gefangen, den sollten wir lebendig mitnehmen. Ich setzte ihn in meinen Köderfischbehälter, den ich vorne zwischen die Beine nahm, um unterwegs mühelos das Wasser erneuern zu können.
Abschiedszeremonie: ,,Kommt gut nach Hause!“ Von meiner Seite ein Dankeschön für die beiden Wochen am und auf dem Labus. Ich versicherte: „Ich werde diese beiden Wochen immer in guter Erinnerung behalten. Das war keine Phrase. Hatte ich doch ein paar schöne Angelerlebnisse gehabt, und was mir ebenso lieb war, den Lebensweg eines Menschen, der mir nahe stand, in allen Einzelheiten kennen gelernt. Den Aal haben wir lebendig nach Hause gekriegt und zum Abendbrot als angenehmen Abschluss des Urlaubs gebraten verzehrt.

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Titel Stammbaum von Burkhard Hohensee
Beschreibung Family Tree of Burkhard Hohensee, Templin, Uckermark, Brandenburg, Germany If you happen to find yourself or your ancestor in my family tree, please contact me. You can see the same family tree in better quality on www.geneanet.org (https://gw.geneanet.org/bhohensee)
Hochgeladen 2024-04-26 17:12:22.0
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